MEINUNG & MACHER
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BERLINERWIRTSCHAFT 10/16
S
eit Februar ist Paul Spies Di-
rektor der Stiftung Stadtmuse-
umBerlin. Erwill dieAusstel-
lungen vor allemmithilfe der
neuenFlächen imHumboldt-Forumpo-
pulärermachen.AuchumdieWirtschaft
willersichkümmern,dennvomStandort
hält erviel –weil dieStadtweltoffen ist.
BerlinerWirtschaft:
Siebeschäftigensich
mit Stadtgeschichte.WelcheBedeutunghat
BerlinsWirtschaftsgeschichte?
Paul Spies:
Eine sehr große. Die Ge-
schichte Berlins, die wir im Hum-
boldt-Forum erzählenwerden, fängt ei-
gentlicherst im19. Jahrhundertsorichtig
an, alsdankdesHandelsundder Indus-
trie eineMetropole undWeltstadt ent-
steht. Der großeBoomkam erstmit der
Industrie indieStadt.
Warumsiedeltesichdie Industriegerade in
Berlin so starkan?
Den Boom lösten vor allem zugewan-
derteUnternehmer aus, diemanchmal
flüchteten, aberauchkamen,weileshier
guteBedingungengab.AlsdasSchienen-
netzgebautwurde,befandsichBerlinauf
einmal inderMitteeiner sehrwichtigen
KreuzungzwischenRusslandundWest-
europa–und stand damit im Fokus. Es
warenvorallemdievielen jüdischenUn-
ternehmer, die große Betriebe gründe-
ten.DannzogensehrvieleArbeiterhinzu
undes entstandeine riesigeStadt.
WarBerlinnichtvorallemResidenzstadt?
Herrscherziehenerstdann ineineStadt,
wenn siezumErfolgwird. Zunächst gab
es kein Schloss an der Spree, sondern
nur zwei kleinere Städte, Berlin und
Cölln. Diese Doppelstadt war ja zuerst
eine Handelsstadt, eine Neugründung
vonKaufleuten,diewahrscheinlichvom
Niederrhein oder ausWestfalenhierher
kamen. Ende des 17. Jahrhunderts legte
derGroßeKurfürstgroßeneueStädtean
derWestseite an–Dorotheenstadt und
Friedrichstadt.SeinNachfolgerbautedas
alte Schloss zum großenBarockschloss
um. DieHugenotten, die aus Frankreich
flüchteten und größtenteils Unterneh-
merwaren, kamenwenig später hinzu.
InBerlinwarensiewillkommen.Fürdie-
se neue Stadt, die hier geschaffenwur-
de, gabeszuwenigBewohner. Jederwar
willkommen.
Willkommenskultur im 19. Jahrhundert. Ist
daseineParallelezurheutigenZeit?
Absolut. EskamenvieleLeutevonüber-
all her, die inBerlin ihreChance ergrei-
fenkonntenunddieMentalitätdes freien
Unternehmertumsmitbrachten. Im 19.
JahrhundertwurdenEinschränkungen
undZünftebeseitigt,dieStadtwurdepo-
litischundreligiösrichtigoffen.Dashat-
tedenEffekt,dasssieextremstarkwach-
senkonnte.
Warumwarenandere Standorte, dieRoh-
stoffezubietenhatten, nichtattraktiver?
Industrie siedelte sich auchdort an, wo
dieRohstoffe leicht zusammenkommen
konnten. DieRegionumBerlin ist nicht
voller Rohstoffe, aber sie liegt an einer
interessantenKreuzung. Über dasWas-
ser konntenRohstoffe zumBeispiel aus
dem Erzgebirge schnell hergebracht
werden. Und dank der Eisenbahn be-
stand dieMöglichkeit,Waren aus allen
Richtungenherein- und herauszubrin-
gen. Einweiterer Standortvorteilwaren
dievielenbilligenArbeiter, die imWes-
tenviel schwerer zu bekommenwaren.
InsofernhatBerlinsGeschichteauchviel
mitArmut zu tun.
Das istdiewenigerschöneSeitevonBerlin…
… dieman aber auch nicht verschwei-
gen darf. Große Familienwohnten oft
in kleinenKellerwohnungen. Für viele
Menschenwar das Lebenwährend der
Industrialisierung ungesund, ohne jeg-
lichenWohlstand. Allerdingswar Berlin
dann auchderOrt, andem sehrviel für
eineVerbesserungdersozialenUmstän-
de getanwurde–durchdieArbeiterbe-
wegung, aber auchdurchneueGesetze.
Berlinwar immereinOrt derAuseinan-
dersetzungen– zwischen den Bürgern
und dem Fürsten, zwischenUnterneh-
mernundderstaatlichenAutorität, zwi-
schenArbeiternundArbeitgebern.
UnddieseAuseinandersetzungensindwich-
tig, umFortschrittezuerzielen?
Ja. Es gab hier immer viel Politik, das
hatKrach gebracht, Streit. InBerlin leb-
teman, um etwas zu schaffen, etwas zu
verbessern. Ichglaube, das ist derNähr-
boden fürdieKreativität,diees immer in
derStadtgab.Berlin ist jetztauchwieder
einOrt, andemdieMenschen sichhe-
rausgefordert fühlen, innovativ zu sein
undDingezuverändern.NebenLondon
ist BerlinheuteHauptstadt der Creative
Industry. Die Atmosphäre ist so voller
ElanundVitalität.Deshalb lebenkreative
Leute hier so gerne. Sie sindVorbild für
andere–und sokommen immermehr.
DieserHypeumBerlin führtauchzu immer
weitersteigendenTouristenzahlen.Wie lan-
gekann soeinBoomerhaltenwerden?
Das istdiegroßeFrage. ImMoment istdie
Situation perfekt, weil die Stadt noch »
Paul Spiesbeschäftigt sichalsDirektor der StiftungStadtmuseum
mit BerlinsGeschichte. AuchdieWirtschaft kannaus ihrer hiesigen
Historieeiniges lernen,meint der Kunsthistoriker
»
VonMichael Gneuss
„Weltoffenheit ist
derBerliner
ErfolgsfaktorNr. 1“
INTERVIEW DES MONATS
FOTO:CHRISTIANKIELMANN