BERLINERWIRTSCHAFT 10/16
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MEINUNG & MACHER
sounvollendet ist.Die jungenTalente lie-
ben es, wenn die Stadt nicht total glatt
und ausdefiniert ist.WennBerlin eines
Tages vollendet ist, wird sich schondie
Frage stellen, ob die Kreativindustrie
sichhiernochwohlfühltundwiesichdas
auf dieAnziehungskraft für dieTouris-
ten auswirkt. Jetzt kannman noch die
Atmosphärevon Freiräumen, von Sub-
kultur empfinden. Hier grassierenwil-
deGedanken, die aber auchwirtschaft-
licheErfolgsgeschichtenwerdenkönnen.
Aber es kann jakeinAusweg sein, dieEnt-
wicklungderStadt zu stoppen.
Nein, aber vielleicht solltemanmit der
VollendungderStadtwenigerEilehaben.
Vielleichtmussman sich stärker darauf
konzentrieren, die kreativenBiotope zu
erhalten.DieseStadt sollteversuchen, so
weitwiemöglich eine Research&De-
velopment-Abteilung zu bleiben–mit
ihrenUniversitäten und Instituten, ih-
ren Start-ups undKünstlern. DieMen-
schen aus diesen Biotopen inspirieren
sichgegenseitig. InUnternehmen ticken
Forschungs-undEntwicklungsabteilun-
genauch immerandersalszumBeispiel
dieProduktion. InBerlinmuss nicht al-
les perfektwerden. Aber die Lebensbe-
dingungen fürdiekreativenBiotope, die
müssenerhaltenbleiben.
Jahr für Jahrwächst die Stadt ummehrals
40.000Menschen.EsfehlenWohnungen,die
Stadtwird teurer. Ist esüberhauptmöglich,
angesichts dieserEntwicklung, Biotope für
KreativeundKünstlerzuerhalten?
Wer kommt denn in die Stadt? Es sind
ganz viele jungeTalente. Undwenndie
jungenTalentekommen, kommen auch
diegroßenUnternehmen.Dieziehen im-
mer dorthin, wo sie geeigneteArbeits-
kräftefinden. Aber siebringennicht ih-
re großen, schweren Produktionsanla-
genmit, sondernmöchtenhiermit den
Berliner Kreativen neue Produkte und
Dienstleistungen entwickeln. Eigent-
lich ist Berlin ein großer Proberaum für
neue Entwicklungen. Und es kommen
dann auchdie Leute, die Lust haben zu
proben. Man lebt hier locker – footloo-
se and fancy free. Das ist anders als in
München.
wenn man Fahrrad fährt. Die Gesell-
schaft hat hier eine andereAtmosphä-
re,diesehrgutzu innovativenMenschen
passt.HierkönnenErfinder leben.Erfin-
der sind ja naturgemäßüber einen gro-
ßenTeil ihresLebenshinwegnochnicht
erfolgreich. ErstwennSiedann tatsäch-
lich etwas Großes erfundenhaben, sind
sieGewinner. Aber inBerlin ist es kein
Problem, keinGewinner zu sein. Dazu
braucht eineGesellschaft einen offenen
Geist.DieBerlinerhabendas.Das isteine
außergewöhnlicheQualität der Gesell-
schaft.Manbekommt hier eineChance.
KönnenSieaus einerhistorischenBetrach-
tungheraus traditionelleStärkendesWirt-
schaftsstandortesBerlinbenennen?
Ja, es ist die offene Gesellschaft. Die
Weltoffenheit. Zweimalwar Berlinwe-
nigeroffen.EinmalwaresderKaiser,der
dieKontrolleüberseinReichhabenwoll-
te, das andereMal natürlich die natio-
nalsozialistische Periode. Aber anschei-
nend ist derHang zurWeltoffenheit in
Berlinsostark, dassernichtunterdrückt
werden kann. Man kann sich ja auch
heute fragen, wie es die Stadt geschafft
hat, nachder Teilung so schnellwieder
VieleblickenmitetwasNeidnachMünchen,
weildortsehrvieleHauptquartierevongro-
ßenKonzernen sitzen. ZuRecht?
DieseHeadquarter schaffenWohlstand
undLuxus.DenhatBerlinnicht.Aberdas
hat auchguteSeiten.
Welche?
Ichweißnicht, obman sich inMünchen
erfolgreich fühlenkann,wennmankein
großesAuto fährt. InBerlingehtdasauch,
Eigentlich ist Berlinein
großerProberaum für
neueEntwicklungen.
Undeskommendann
auchdieLeute, dieLust
haben zuproben.
PAUL SPIES
Direktor
StiftungStadtmuseumBerlin
Paul SpieskannvieleGeschichtenausBerlinerzählen: DieStadt erkundet er gernauf demFahrrad
FOTO:CHRISTIANKIELMANN