BERLINER WIRTSCHAFT 02/17
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NEUE UNTERNEHMEN & MÄRKTE
INSOLVENZ ALS
STRATEGIE
S
tart-ups können schnell in Pro-
bleme geraten – zuletzt war das
zum Beispiel bei Paymill und
Home Eat Home der Fall. Meist führen
nicht erfüllte Erwartungen und zu hohe
Ausgaben für schnelles Wachstum da-
zu, dass die nächste Finanzierungsrunde
schneller als geplant notwendigwird. Die
bisherigen Gesellschafter tun sich dann
oft schwerer, weitere Mittel zu stellen. Die
Gesprächemit neuen Investoren gestalten
sich dann meist schwierig.
Die Geschäftsführer, oft junge Grün-
der, sind in dieser Situation häufig über-
fordert, denn sie müssen vieles beachten:
•
Die Insolvenzordnung verlangt, dass die
Geschäftsführer umgehend einen Insol-
venzantrag stellen, wenn ein Insolvenz-
grund vorliegt.
•
Die alten Gesellschafter verlangen bis
zur letzten Minute für den Erhalt ihrer
Anteile zu kämpfen.
•
Die Gläubigerwollenmöglichst alleVer-
bindlichkeiten bezahlt bekommen.
•
Die Arbeitnehmer erwarten, dass das
Unternehmen mit möglichst vielen Ar-
beitsplätzen erhalten bleibt.
•
Neue Gesellschafter wollen das Unter-
nehmen am liebsten umsonst erwerben.
Wenn die Verhandlungsspielräume
immer enger werden, können Start-ups
häufig nicht mehr gerettet werden. Der
letzte Akt ist der Insolvenzantrag, mit
dem der Vorhang in der Regel fällt. Doch
das muss nicht sein. Eine Insolvenz kann
auch ins Kalkül gezogenwerden. Wichtig
ist, dass nach dem Gesetz die Geschäfts-
führung in der Krise nicht mehr die Ge-
sellschafterinteressen, sondern aus-
schließlich die der Gläubiger zu vertreten
Nicht erfüllte Erwartungen und zu hohe Ausgaben für schnelles
Wachstum können Start-ups in die Krise führen – die Insolvenz
kann eine gute Basis für den Neustart sein
»
Von Vincenz von Braun
führung eine strategische Bedeutung,
denn sie kann damit die Parteien zur Rai-
son zwingen. Wenn die Gesellschafter in
dieser Phase zu viele negative Anzeichen
versenden, kann die Prognose kippen
und die Geschäftsführung muss umge-
hend einen Insolvenzantrag stellen.
An dieser Stelle ist es entscheidend zu
wissen, was in einer Insolvenz alles mög-
lich ist. Das deutsche Insolvenzrecht ist
eines der modernsten und sanierungs-
freundlichsten weltweit. Zunächst kann
man auch nach Antragstellung den Ge-
schäftsbetrieb in vollem Umfang weiter-
führen. Und das zeitweise mit deutlich
besseren Rahmenbedingungen, denn die
Insolvenzordnung fungiert als Schutzglo-
cke. Die Gehälter werden für drei Monate
über das Insolvenzgeld bezahlt, es müs-
sen keine Altverbindlichkeiten begli-
chen, Zinsen nicht bedient werden und
Abschreibungen spielen keine Rolle. Ar-
beitnehmer können außerdem leichter
gekündigt und freigestellt werden.
hat, denn bei Vorliegen eines Insolvenz-
grundes reicht das Vermögen nicht aus,
um alle Verbindlichkeiten zu bezahlen.
Wichtigste Aufgabe der Geschäfts-
führung ist in der Krise die regelmäßige
und gut dokumentierte Prüfung, ob Insol-
venzgründe vorliegen. Zwingende Insol-
venzgründe sind „Zahlungsunfähigkeit“
und „Überschuldung“. Die Prüfung der
Zahlungsunfähigkeit ist relativ leicht zu
ermitteln: Kann das Unternehmen zu ei-
nembestimmten Stichtag aus denverfüg-
baren liquiden Mitteln nicht mindestens
90 Prozent der fälligen Verbindlichkeiten
bezahlen, liegt Zahlungsunfähigkeit vor.
Insolvenz bei Überschuldung
Die Überschuldung ist schwieriger zu er-
mitteln, weil hier die Insolvenzordnung
differenziert: Eine Überschuldungsprü-
fung muss nicht gemacht werden, wenn
das Unternehmen eine „positive Fortfüh-
rungsprognose“ hat – also auf Basis einer
konservativen Planung mindestens bis
zum Ende des nächsten Geschäftsjahrs
sämtliche fällig werdenden Verbindlich-
keiten bezahlen kann. Andernfalls ist in
der Regel Überschuldung gegeben. Bei
Start-ups, bei denen oft die laufende Fi-
nanzierung nicht mehr für den Zeit-
raum der positiven Fortführungsprog-
nose ausreicht, kommt es darauf an, dass
die Geschäftsführung belegen kann, dass
eine neue Finanzierung zustande kommt.
Kippt diese Einschätzung im Laufe des
Prozesses, dürfte in der Regel eine Über-
schuldung vorliegen –verbundenmit der
Pflicht, den Insolvenzantrag zu stellen.
Die Prüfung der positiven Fortfüh-
rungsprognose hat also für die Geschäfts-
In der Krise gilt es, einen
kühlen Kopf zu bewahren
– und die Möglichkeiten für
einen eventuellen Neustart
genau zu prüfen
FOTO: GETTY IMAGES/DAVID LEES