Berliner Wirtschaft Juni 2023

Tischkicker und Kaffeeküche im virtuellen Raum nicht zur Verfüfung stehen, muss die Team-Dynamik anders erzeugt werden. Zunächst einmal sollte man im Hiring-Interview ehrlich abklären, ob der Mitarbeiter Lust hat auf eine Remote-First-Umgebung. Dann sollte bereits vom Onboarding an gewährleistet sein, dass neue Kollegen sich schnellstmöglich integriert fühlen, zum Beispiel indem Mentoren und Mentorinnen bereitgestellt werden. Lockerere Meeting-Formate, wohldosiert, und Tools ergänzen dies, um den Plausch an der Kaffeemaschine wenigstens teilweise zu ersetzen. Ganz ohne persönliche Treffen geht es aber nicht. Unternehmen sollten mindestens zwei jährliche Offsites für alle organisieren. Das ist teuer, zahlt sich aber meist aus, denn hier tankt die Gruppe das Wir-Gefühl, von dem sie monatelang zehrt. Zudem sollte es im Unternehmen jemanden geben, der oder die das Thema Remote Work verantwortet. Sonst geht die laufende Optimierung der Prozesse im täglichen Business leicht unter. Zu viel Kontrolle vermeiden Kontrollfreaks als Führungskräfte mag niemand, das war schon immer so. In der Realität der Remote-Arbeit tun sich viele Führungskräfte aber noch immer mit mangelnder Kontrolle schwer – obwohl viele Studien gezeigt haben, dass Remote-Teams sogar produktiver und dabei besser gelaunt sind als die, die im Büro sitzen müssen. Außerdem wird die beste Arbeit dann geleistet, wenn Mitarbeitende ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Gestaltungsspielraum haben. Arbeitnehmer, die damit nicht umgehen können, sind in Start-ups sowieso fehl am Platz. Wer starken Kontroll-Drang hat, der wird mit einem Remote-First-Unternehmen scheitern. Insofern sollten sich Gründerinnen und Gründer sehr genau überlegen, ob ein vollständig remote geführtes Unternehmen für sie passt. Mitarbeiter planvoll einstellen Die Einstellung von Mitarbeitenden, die in einem anderen Land leben, bringt juristischen und organisatorischen Aufwand mit sich und birgt einige Fallstricke. Das ist kein Hinderungsgrund für Remote Hiring, aber Start-ups sollten sich damit frühestmöglich auseinandersetzen. Eine Lösung können spezialisierte Service-Anbieter sein, die die arbeitsrechtlichen und administrativen Aufgaben im Land des Mitarbeitenden übernehmen, inklusive der Auszahlung des Gehalts. Ein klarer Vorteil, wenn es um die Reduktion von Komplexität geht, aber natürlich ist das weder kostenlos zu haben, noch sind alle Anbieter gut. Bei einer direkten Anstellung von Mitarbeitenden ohne Zwischeninstanz verantwortet jedoch das Start-up alle Aufgaben selbst, und das kann zu komplex und teuer werden. Was im Einzelfall am sinnvollsten ist, muss jedes Start-up selbst entscheiden. Es sollte dafür aber unbedingt Experten zurate ziehen. Zahl der Videocalls begrenzen Wir alle wissen: Videocalls als einzige mögliche Form von Meetings – das kann sehr ermüdend und anstrengend sein. Und es muss nicht sein. In den letzten Jahren konnten wir alle den richtigen Umgang mit Videocalls lernen: etwas Disziplin, klare Regeln und zeitliche Limits. Am besten die Anzahl der Calls auf ein Minimum reduzieren und schauen, dass nur diejenigen dabei sind, die wirklich gebraucht werden. Klingt banal, aber immer noch ist ein Großteil der Meetings einfach unnötig oder könnte stark verschlankt werden. Das war im Übrigen schon immer so, es wurde nur durch virtuelle Meetingräume noch deutlicher. Es empfiehlt sich auch, meeting-freie Tage einzuplanen. So hat das gesamte Team Zeit für fokussierte Arbeit. Unternehmenswerte pflegen In allen Unternehmen kommt es immer mal zu Konflikten. Sie zu lösen, ist in Remote-Teams aber oft schwieriger. Zumal bei internationalen Teams auch noch unterschiedliche Arbeitsweisen aufeinandertreffen können. In jedem Fall müssen Führungskräfte auf kleinste Zeichen von Konflikten achten. Auch muss es für alle Teammitglieder vertrauensvolle Ansprechpartnerinnen und -partner für solche Themen geben. Mitarbeitende dürfen sich nie alleingelassen fühlen. Zudem kommt es auch im Remote-Set-up auf eine starke und positive Führungskultur an. Wenn das Unternehmen Werte wie Ehrlichkeit, Offenheit für Feedback, Freundlichkeit und Integrität praktiziert, werden für gewöhnlich auch Konflikte schneller und besser gelöst. Die Pflege dieser Werte beginnt schon beim Hiring, bei dem diese Überzeugungen thematisiert werden müssen. Ich kann allen Remote-First-Gründerinnen und -Gründern nur dringend raten, sich mit all diesen Themen frühzeitig und bewusst auseinanderzusetzen. Es nicht zu tun, wird sich früher oder später rächen. Geht man aber aktiv mit diesen Challenges um, ist Remote Work gerade für Start-ups eine riesige Chance. ■ Christina Lüdtke, IHK-Fachreferentin Gründung, Start-ups und Nachhaltigkeit Tel.: 030 / 315 10-405 christina.luedtke@ berlin.ihk.de Link zur Website der Gründerszene Die ungekürzte Version des Textes unter: gruenderszene.de (kostenpflichtig). Der Autor Martin Kaelble ist Co-Gründer der digitalen News-Plattform Informed. Zuvor war er als Redakteur beim Wirtschaftsmagazin „Capital“ tätig. Veranstaltung Die IHK informiert am 22. Juni, 10–11.30 Uhr, online via Cisco Webex über „Workation – So gestalten Sie vorübergehendes Arbeiten aus dem Ausland“. Registrierung: events. ihk-berlin.de/work-bw Ansprechpartnerin für die Veranstaltung: Anna Borodenko, IHK-Fachreferentin Gründung, Start-ups und Nachhaltigkeit Tel.: 030 / 315 10-522 anna.borodenko@ berlin.ihk.de ILLUSTRATION: GETTY IMAGES/FSTOP/MALTE MÜLLER; FOTO: FOTOSTUDIO CHARLOTTENBURG Berliner Wirtschaft 06 | 2023

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