Berliner Wirtschaft Juni 2023

E tliche Bewohner der Hauptstadt kennen solche Probleme aus dem eigenen Kiez: Die Geschäftsstraße vor Ort wird durch Verkehrslärm von Schwerlasttransportern beeinträchtigt. Es gibt wenige Querungsmöglichkeiten, die Fußwege sind stark beschädigt, und Sitzmöglichkeiten fehlen. Mitunter prägen auch viele Ladenschließungen das Bild – aus Altersgründen oder wegen der teuren Mieten. Und das Angebot an Waren des täglichen Bedarfs ist gering. So eine über die Jahre immer weiter sinkende Aufenthaltsqualität erlebten auch die Menschen rund um die Hauptstraße im Pankower Ortsteil Wilhelmsruh. Eine Gruppe von aktiven Wilhelmsruhern wollte sich im Jahr 2019 mit dieser Situation nicht mehr abfinden. „Für uns war der Wettbewerb ,Mittendrin Berlin! Projekte in Berliner Zentren‘ der Startschuss, uns überhaupt als Interessengemeinschaft zu gründen“, erzählt Nele Thoma, eine der Initiatorinnen der Initiative „Wilhelm gibt keine Ruh“. Der auch von der IHK Berlin getragene Wettbewerb zeichnet Ideen und Konzepte lokaler Akteure und Standortgemeinschaften aus, die die Zentren und Geschäftsstraßen der Stadt in besonderer Weise stärken. „Die finanziellen Mittel, aber auch die professionelle Unterstützung und die Beratungsleistungen waren der Anreiz, daran teilzunehmen, um unsere Vision von Wilhelmsruh als ein lebendiges, von Anwohnern mitgestaltetes und selbstbestimmtes Quartier zu verfolgen“, ergänzt die engagierte Macherin aus Wilhelmsruh. „Vier Jahre später sind wir ein eingetragener Verein mit Gemeinnützigkeit, haben viele Ideen umgesetzt, um die Attraktivität und Aufenthaltsqualität unserer Hauptstraße zu erhöhen, und den Wettbewerb als einzige Gruppe sogar zweimal gewonnen.“ Gleichzeitig hat „Wilhelm gibt keine Ruh“ in kürzester Zeit ein breites Netzwerk aufgebaut, das neben lokalen Akteuren auch Vertreter aus der Verwaltung und der Wirtschaft umfasst. Die Vielzahl der mittlerweile realisierten Projekte und Veranstaltungen vor Ort beeindruckt. Mit der Eröffnung eines Kiezladens wurde der erste großen Schritt getan, die Attraktivität und Aufenthaltsqualität zu erhöhen. „Richtig aufrütteln konnten wir die Anwohner mit einer Aktion, als wir die Schaufenster fast aller Geschäfte schwarz verhüllt und mit neonfarbenen Buchstaben kurze Botschaften wie ,Wenn Geschäfte Trauer tragen‘ oder ,Wir schließen‘ zum Nachdenken auf die schwarzen Fenster geschrieben haben“, so Nele Thoma. „Damit haben wir den Menschen eben vor Augen geführt: So sieht es hier aus, wenn ihr alles nur noch im Internet bestellt.“ Nach Überzeugung der Akteure von „Wilhelm gibt keine Ruh!“ müssen auch die Anwohner ihren Teil dazu beitragen, ihren eigenen Kiez und die Geschäfte in der Hauptstraße zu pflegen. Darüber hinaus wurde kürzlich in Kooperation mit einem renommierten Berliner Marktbetreiber ein samstäglicher Wochenmarkt eröffnet. Mittelfristig soll mit dieser Idee die Angebotslücke im Ort geschlossen und gleichzeitig der öffentliche Raum zum Schauen, Schlendern und Einkaufen vergrößert werden. Nicht zuletzt stellt der Verein auch neue Sitzgelegenheiten auf, bepflanzt kleine und große Kübel oder baut Rollstuhlrampen aus Legosteinen für mehr Barrierefreiheit. Flanieren, Inspirieren, Austauschen „Eine Geschäftsstraße hat viel mehr Aufgaben, als nur den täglichen Bedarf an Konsumgütern zur Verfügung zu stellen“, wird Nele Thoma nicht müde zu betonen. „Wir wissen mittlerweile, dass die Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums, zum Verweilen, zum Flanieren, Inspirieren und Austauschen eine wesentlich größere Rolle spielt als der reine Einkauf“, fügt die engagierte Frau aus dem Pankower Ortsteil Wilhelmsruh hinzu. „Interessengemeinschaften können hier einen anderen Blickwinkel eröffnen, neue Perspektiven zeigen und Ideen wie Pop-up-Stores einfacher umsetzen, denn sie stehen für Bedürfnisse aus der Bevölkerung, die marktwirtschaftlich orientierte Eigentümer oder Investoren so nicht abbilden können.“ ■ Eine Initiative belebt die Geschäftsstraße von Wilhelmsruh neu. Motivation und Geld lieferte der Wettbewerb „Mittendrin Berlin! Projekte in Berliner Zentren“ Keine Ruhe geben 2-mal gewonnen hat die Initiative aus Wilhelmsruh beim Wettbewerb „Mittendrin Berlin!“, als bisher einziger Teilnehmer. Nele Thoma, Mitinitiatorin von „Wilhelm gibt keine Ruh“ am neuen Wochenmarkt Nele Thoma Wir haben den Menschen vor Augen geführt: So sieht es hier aus, wenn ihr alles nur noch im Internet bestellt. Wettbewerb Mehr zur Zentren-Initiative „Mittendrin Berlin!“, die die IHK mitträgt: berlin.de/mittendrin FOTO: CHRISTIAN KIELMANN FOKUS | Pragmatische Stadtentwicklung | 22 Berliner Wirtschaft 06 | 2023

RkJQdWJsaXNoZXIy MTk5NjE0NA==