Berliner Wirtschaft April 2023

Ein weiteres störendes Detail ist, dass laut Branchenverband BVLH gerade sieben Prozent der in Deutschland entstehenden Lebensmittelverluste im Handel anfallen. Schätzungsweise gehen 50 Prozent auf private Haushalte zurück, also seien Aufklärungskampagnen, die an die Verbraucher gerichtet sind, der wirksamere Hebel. Eine weitere rechtliche Stellschraube benennt im „Spiegel“ Verbandsgeschäftsführer Franz-Martin Rausch: „Wenn Staat und Politik wirksam die Lebensmittelverschwendung reduzieren wollen, sollten Lebensmittelunternehmen und gemeinnützige Organisationen dabei unterstützt werden, mehr verzehrfähige Lebensmittel zu spenden und an Bedürftige zu verteilen“, denn bisher falle bei solchen Spenden die Mehrwertsteuer an. In Frankreich ist es großen Einzelhändlern und Supermärkten seit 2016 nebenbei verboten, Lebensmittel wegzuwerfen, sie müssen gespendet werden. Abgelaufene Ware in Umlauf bringen Gespendet werden Lebensmittel in Deutschland bisher freiwillig, an gemeinnützige Organisationen wie die Tafeln. Seit mehreren Jahren besteht ferner die Möglichkeit, Waren mir kurzemHaltbarkeitsdatum an Unternehmen weiterzureichen, die sie wieder in den Umlauf bringen. Beispiele dafür sind Too Good To Go, Motatos oder Sirplus. Letztere starteten in Berlin 2017, gewannen 2018 den Green Buddy Award und eröffneten schnell nacheinander neue Standorte. Der Dämpfer kam im September 2021, als Sirplus alle fünf Läden schließen und Mitarbeiter entlassen musste. Seitdem beschränkt sich das Start-up aufs Online-Geschäft, ähnlich wie die Mitbewerber. Dass es bei dieser Frage nicht schnell und einfach geht, merkten die Aktivisten der „Letzten Generation“. Anfänglich verbanden sie ihre Klebeproteste mit der Forderung, ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung zu verabschieden. Sie nahmen auch Lebensmittel aus Supermarktmülltonnen und verteilten sie in öffentlichkeitswirksamen Container-Aktionen. Das von ihnen geforderte „Essen-retten-Gesetz“ gibt es noch nicht, die Straffreiheit fürs Containern wird immerhin parlamentarisch diskutiert. Eine Online-Petition an den Bundestag, die Sirplus mit dem Ziel initiiert hat, Lebensmittel mit einem abgelaufenenMindesthaltbarkeitsdatummit null Prozent zu besteuern, fand innerhalb von zwei Monaten nur 2.560 Unterstützer. Die Mühen der Ebene sind eben unsexy.  ■ „Containern ist bei uns nicht nötig“ BW: Die Bio Company ist regionaler Marktführer im Bio-Lebensmitteleinzelhandel. Was tun Sie gegen Verschwendung? Nicole Korset-Ristic: Wir konnten bereits zahlreiche Tonnen Lebensmittel retten. Bereits 2012 waren wir Gründungspartner der Initiative Foodsharing. Zur Optimierung der Bestellungen haben wir ein Mehrstufensystem eingeführt, sodass nicht mehr allzu viel Ware übrig bleiben kann. Auch bieten wir Lebensmittel kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums preisreduziert an, sodass ein guter Teil noch erworben werden kann. Wo sehen Sie noch regulatorischen Nachbesserungsbedarf? Aus unserer Sicht sollte das Retten von noch genießbaren Lebensmitteln aus Müllcon- tainern von Supermärkten entkriminalisiert werden. Bislang gilt dies als Ladendiebstahl. Bei uns landet nur noch das in der Tonne, was wirklich ungenießbar oder verdorben ist. Und das ist sehr wenig. Containern ist durch unseren bewussten Umgang mit Lebensmitteln gar nicht mehr nötig, wir haben hier neue Wege gefunden. Wie stehen Sie zur Idee, Handelsunternehmen zu verpflichten, abgelaufene Lebensmittel zu spenden? Das würden wir begrüßen. Es würde die gemeinwohlorientierte Idee fördern und letztlich auch eine Wertschätzung gegenüber den Produzenten von Lebensmitteln mit sich bringen. ■ Nicole Korset-Ristic Vorständin Verkauf & Immobilien Bio Company SE und Vizepräsidentin IHK Berlin der Befragten einer aktuellen Online-Abstimmung der „Berliner Woche“ stimmten der Frage zu: „Sollten Supermärkte verpflichtet werden, verwertbare Lebensmittel zu spenden?“ Simone Blömer, IHK-Key Account Managerin Handel, Tourismus und Gastgewerbe Tel.: 030 / 315 10-432 simone.bloemer@ berlin.ihk.de 76% FOTOS: GETTY IMAGES/VIEW STOCK, HELMUT BIESS Berliner Wirtschaft 04 | 2023

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