Berliner Wirtschaft Dezember 2023

Als Siegfried Hirschmann vor 130 Jahren in Nürnberg als Sohn eines Metzgers zur Welt kam, war sein Weg hin zu einem der angesehensten Unternehmer Berlins keineswegs vorgezeichnet. Nach Volks- und Realschule arbeitete er hart im Kontor einer Textilhandlung, belegte Fremdsprachenkurse und bildete sich in der jungen Elektrotechnik fort, in der er Potenzial für seine eigenen Unternehmungen sah. 1890 gründete er die „Handelsgesellschaft für Kabel- und Gummiprodukte“ in der Landsberger Allee. 1895 bereits zog das Unternehmen nach Rummelsburg, um dort selbst in großem Stil zu produzieren, und firmierte fortan als Deutsche Kabelwerke AG. Kabel waren ein Wachstumsmarkt ohnegleichen und lieferten den neun Berliner Kabelwerken, die es bis in die 1920er-Jahre gab, ein gutes Auskommen – neben den Riesen Siemens und AEG. Hirschmann saßen seine Auftraggeber im Nacken, etwa die Elektrizitätswerke Dresden. Um 1900 hatte der Unternehmer ein umfangreiches Fertigungsprogramm für Stark- und Schwachstrom, wobei er neben den Bleikabeln für Telefon, Telegraphie und elektrisches Licht auch isolierte Drähte, Kabel und Schnüre herstellte sowie andere Gummiprodukte. Zur Ausweitung dieses Marktes erwarb er 1907 die Cyklon Maschinenfabrik für motorisierte Dreiräder, die „Cyklonettes“. Diese fuhren alsbald auf Deka-Reifen. 1911 waren die Deutschen Kabelwerke nur einer von elf Reifenherstellern in Deutschland – die Deka Pneumatik GmbH versuchte es 1935 weltweit als Erste mit synthetischem Kautschuk (Buna) statt Gummi. Die Freude an technischen Neuerungen begleitete die gesamten 37 Jahre, die der Industriepionier Hirschmann an der Spitze der Deutschen Kabelwerke stand, und verschaffte ihm Eintritt in alle wichtigen Gremien und Kommissionen seiner Branchen. Ein jähes Ende fanden Ansehen und Geschäft Hirschmanns mit der Machtübernahme der Nazis. Schon im April 1933 wurden er und sein Bruder von der Gestapo verhaftet. Am 3. August 1939 erst verließ Hirschmann Berlin und floh nach Guatemala. Drei seiner Schwestern wurden in Auschwitz ermordet. Am 8. März 1942 starb er, seine Familie hingegen konnte die enteigneten Kabelwerke nicht wiedererhalten. Das Unternehmen ging nach der zweiten Enteignung in den volkseigenen „VEB Deka Gummiwerken“ auf, später der bedeutendste Reifenhersteller des Ostblocks. 1992 erfolgte die Rückerstattung an Hirschmanns betagten Sohn. Er verkaufte das Werk, in dem bis 2008 noch produziert wurde. Siegfried Hirschmann gehörte zu den großen Berliner Industriellen. Er vereinte Fleiß und Unternehmergeist und war deshalb hochgeachtet – bis er als Jude verfolgt wurde. ■ Der jüdische Industriepionier Siegfried Hirschmann produzierte über Jahrzehnte Kabel und Gummiprodukte, bis er nach der Machtergreifung der Nazis alles verlor von Björn Berghausen (BBWA) Erfolgsstory mit traurigem Ende Zugang zum Wirtschaftsarchiv Die Bestände des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs (BBWA) können nach Vereinbarung eingesehen werden. Kontakt und Infos: bb-wa.de Briefkopf der Deutschen Kabelwerke. Der Standort des Unternehmens war in Rummelsburg Siegfried Hirschmann begeisterte sich als Unternehmer stets für technische Innovationen FOTO: BBWA; ILLUSTRATION: BBWA/FAMILIE HIRSCHMANN Historie | 43

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