Berliner Wirtschaft November 2021
J eder dritte Berliner hat einenMigrationshin- tergrund. Ein Grundstein für diese Vielfäl- tigkeit legten die Anwerbeabkommen, die Westdeutschland ab Mitte der 1950er-Jahre mit Ländern wie der Türkei schloss. Die Bundes- republik suchte damals Arbeitskräfte, Hundert- tausende Türken folgten nach der Vereinbarung vom 30. Oktober 1961 diesem Ruf. Die Türkei litt zu dieser Zeit unter Arbeitslosigkeit, Auslands- schulden und politischer Instabilität. Gerade für die wirtschaftliche Entwicklung im geteilten Berlin waren die „Gastarbeiter“ unverzichtbar. „Die Firmen haben Arbeitskräfte gebraucht, da Arbeiter aufgrund der Teilung nach Westdeutschland gezogen sind“, sagt Safter Çınar, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Branden- burg. „Ohne die Migranten hätte sich die Wirt- schaft in Berlin viel langsamer entwickelt.“ Bis 1973 stieg die Zahl der Menschen mit tür- kischem Pass explosionsartig. Stefan Zeppen- feld, Referent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, legte 2020 seine Dissertation zum Thema ab. „West-Berlin unterschied sich bei den Einsatz- feldern der ‚Gastarbeiter‘ vomRest der Republik“, sagt er. „Es wurden mehr Frauen angeworben, die gerade für filigrane Arbeiten in der Elektroin- dustrie bei Siemens, AEG oder Telefunken einge- setzt wurden. Männer rekrutierte man eher für die klassischen Malocher-Jobs.“ Generell verrichteten die türkischen Einwan- derer Arbeiten, die die Mehrheitsgesellschaft nicht ausüben wollte. Demütigungen im Anwerbever- fahren gehörten neben rassistischen Klischees oder der anfänglichen Unterbringung in herun- tergekommenen Wohnheimen zur Tagesord- nung. 1975 folgte die umstrittene „Zuzugssperre“ in Bezirken wie Kreuzberg oder Wedding. Das warf bei vielen die Frage auf, ob sie überhaupt willkommen seien: „Das Konzept der ,Gastarbeit‘ war nicht auf Dauer angelegt. Es fällt auf, dass man sich wenig um diese Leute gekümmert hat. Es gab zum Beispiel kaum Sprachkurse“, so Zep- penfeld. Einige Unternehmen hätten verstanden, dass es wichtig sei, Kontinuität in der Belegschaft zu erreichen. Daraus resultierten aber erst später Qualifizierungsprogramme. Mitte der 1970er-Jahre sanken infolge der Ölkrise die Beschäftigungschancen für Arbeits- migranten, es folgte der Anwerbestopp. Infolge- dessenmachten sich viele selbstständig. Auch der ehemalige Gastarbeiter Mehmet Özcan, Gründer der Özcan Getränke GmbH, heute der größte Ver- treter auf demMarkt für das türkische National- Grafiken: BW Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2021 Türkische Gründer auf stabilem Niveau Gewerbeanmeldungen von Einzelunternehmern anderer Nationalitäten legen deutlich zu, 1992–2021 (1. Halbjahr) Dilek Dönmez führt heute das Unternehmen Özcan Getränke, das ihr Vater gegründet hat Auf und Ab Anmeldungen in Berlin insgesamt 0 10 20 30 40 50 30,8 1992 2020 insgesamt in Tausend 0 5 10 15 20 18,7 12,0 13,4 1,8 1,9 1,4 1992 2020 2012 2007 davon türkische Unternehmer nicht-deutsche in Tausend FOTOS: ÖZCAN GETRÄNKE GMBH, PICTURE-ALLIANCE/DPA/GIEHR 44 IHK BERLIN | BERLINER WIRTSCHAFT 11 | 2021 fachkräfte Integration Nach dem Anwerbeabkommen 1961 kamen Tausende Türken nach West-Berlin und beschleunigten den Aufschwung. Folgegenerationen prägen bis heute die Wirtschaft von Julian Algner „Der Druck war groß“
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