Berliner Wirtschaft Juni 2022

A lkoholfrei ist das neue vegan“, sagt Isabella Steiner bestimmt, während ich vorsich- tig am eiskalten, alkoholfreien Gin Tonic nippe – ich schmecke keinen Unterschied zum hochprozentigen Pendant. Wir sitzen in Steiners „Null Prozent Späti“, Deutschlands erstem alkoholfreiem Späti gleich um die Ecke vom Chamissoplatz. Was Steiner meint: Zunächst ein Nischenprodukt für eine begrenzte Personenzahl, erfreuen sich alkohol- freie Drinks und Weine immer größerer Beliebt- heit. Das Gastronomiefachmagazin „fizzz“ zählt sie zu den fünf großen Trends im Jahr 2022. Steiner, die schon während ihres Soziologie- studiums nicht nur ihr eigenes Trinkverhalten hinterfragte, verfolgt eine Mission: „Es gibt viele Gründe, alkoholfrei zu genießen. Wir möchten diese Produkte vomVorurteil befreien, nur etwas für Schwangere und Alkoholkranke zu sein.“ Dankbare Fanpost von Fluglotsen und Pflegern, die das Angebot für ihreWeihnachtsfeier genutzt haben, zeigt, wie divers die Zielgruppe tatsächlich ist. Isabella ist es wichtig, dass die Zero-Varianten geschmacklich nah an das Original herankommen – gerade auch, umes „Umsteigern“ zu erleichtern. Nicolas van de Sandt, Mitgründer von Easip Drinks in Berlin, findet, dass der Vergleichbarkeit auch Grenzen gesetzt sind, umkeine Erwartungen zu enttäuschen. Seit 2020 vertreibt das Unterneh- men seine Destillate. Für die sogenannten Bota- nicals, komplexe, nicht alkoholische Kräuteraus- züge aus Dampfdestillation, wird bewusst kein Wacholder verwendet, Hauptzutat imGin. „Unsere Produkte sind eine ganz eigene Kategorie, die sich schwerlich vergleichen lassen“, sagt Nicolas. So ergeben sich zum Beispiel aus der Kombination von Gurke, Thymian, Koriandersamen und Ing- wer ganz neue aromatische Varianten. Unter dem Label „Easip Fields“ ist diese Kombination auch im Späti zu finden. Das Gleiche gilt auch für die Flaschen von zwei weiteren jungen Berliner Produzenten von nullprozentigen Getränken: Philipp Rößle, CEO und 2018 Mitgründer von Kolonne Null, kann ver- stehen, dass eingefleischten Weintrinkern der Gedanke an alkoholfreien Wein zunächst viel- leicht nicht behagt. Aber: „Die Zeiten, in denen man einfach einem x-beliebigenWein den Alko- hol entzieht, sind vorbei. Unsere Arbeit beginnt bereits imWeinberg gemeinsammit demWinzer.“ Dabei entstehen dank neuer, aromaschonen- der Techniken Weine, die offenbar immer mehr Genießern schmecken – Fassreifung inklusive. Laut DeutschemWeininstitut beträgt der Markt- anteil derzeit ca. 1 Prozent, aber alle Produzen- ten berichten von stark steigenden Absätzen (bei Sekt sind es bereits 5 Prozent). Sogar für den Ver- band Deutscher Prädikatsweingüter, Gralshüter der deutschen Weinqualität, sind alkoholfreie Weine kein Sakrileg (mehr), und für die neue Linie „Sessions“ hat Kolonne Null mit Top-Win- zern kooperiert. Kein Wunder, dass Weine ohne Alkohol auch als Menü-Begleiter in Sternerestau- rants angeboten werden. Ebenfalls in der Gastronomie und in immer mehr Bars sind die Null-Prozent-Drinks von Laori zu finden, auch wenn der Absatz über Handel und Online-Shop derzeit noch deutlich mehr Anteil amUmsatz hat. „Alkoholfrei geil machen“ – nicht mehr und nicht weniger ist das Ziel von Stella-­ Oriana Strüfing, Geschäftsführerin und Gründe- rin. Mit der Gründung 2019 hat sie ein eigenes, von der Parfümdestillation abgeleitetes Herstel- lungsverfahren entwickelt. So hat sie sich spiele- risch-experimentell von der heimischen Küche aus an die beste Produktionsweise herangetas- tet – ein echter „Lean-Startup-Prozess“. Was den Vergleich mit den alkoholhaltigen Geträn- ken betrifft, ist sie klar: „Gin ist die Grundlage für Mixgetränke und wird nicht solo getrunken, das ist der Maßstab. Im (alkoholfreien) Gin Tonic muss er also bestehen.“ Vom ersten Tag an hat Laori mit demOnline-Shop gute Umsätze gemacht. Ein entscheidender Grund hierfür war, dass Strüfing stets ihre Social-Media-Kanäle bespielte und die wachsende Community mitnahm auf die Reise von den frühen Experimenten über erste Tastings bis hin zum Launch des Prototyps. Seit ca. 2015 gibt es alkoholfreie Spirituosen in Deutschland, und das immer bunter werdende Spektrum trifft auf eine immer größer werdende Zahl von Konsumenten. Der Umsatz imKreuzbe- rger Späti hat sich bisher ca. alle drei Monate ver- doppelt. Laut „Bacardi Trends Report 2021“ trin- ken weltweit 22 Prozent der Konsumenten weni- ger und 55 Prozent bezeichnen sich als „mindful drinkers“. Auch die Teilnahme an Aktionen wie dem „Dry January“ ist signifikant gestiegen. Alle Unternehmer bestätigen mir unisono, dass sich die Qualität des Angebots ständig ver- bessert, dass ständig an den Produktionsverfah- ren gefeilt wird und immer neue, interessante Entwicklungen auf den Markt kommen. Stimmt: Als ich den Späti (völlig nüchtern) verlasse, höre ich, wie ein Stammkunde staunt: „Da stehen ja schon wieder neue Sachen im Regal!“  ■ Isabella Steiner Gründerin Null Prozent Späti Wir möchten diese Produkte vom Vorurteil befreien, nur etwas für Schwangere und Alkohol­ kranke zu sein. (1) Die Destillate des Unternehmens Easip Drinks basieren auf sogenannten Botanicals, das sind nicht alkoholische Kräuterauszüge (2) Philipp Rößle, CEO und Mitgründer von Kolonne Null, legt Wert auf aromascho­ nende Techniken bei der Weinherstellung (3) Laori, 2019 gegründet von Stella-Oriana Strüfing und Christian Zimmer­ mann, macht besonders mit dem Online-Shop gute Umsätze Tobias Rühmann, IHK-Branchenmana- ger Industrie Tel.: 030 / 315 10-621 tobias.ruehmann@ berlin.ihk.dede FOTOS: EASIP DRINKS, KOLONNE NULL, LAORIE/JULE FELICE FROMMELT, JACLYN LOCKE 41 IHK BERLIN | BERLINER WIRTSCHAFT 06 | 2022 BRANCHEN | Getränkehersteller

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