Berliner Wirtschaft April 2022

Der Autor Dr. Christoph Hienerth ist Professor für Entrepreneurship an der WHU – Otto Beisheim School of Management sowie akademischer Leiter des dortigen Entrepreneurship Centers und des Masterstudiengangs in Entrepreneurship. Melina Hanisch, IHK-Fachreferentin Start-ups und Finanzierung Tel.: 030 / 315 10-527 melina.hanisch@ berlin.ihk.de Link zur Website der Gründerszene Die vollständige Version des Textes unter: gruenderszene.de (kostenpflichtig). an der Verbesserung der Altersversorgung interessiert, könnte man eine ganz spezifische Situation simulieren, um sehr schnell Ineffizienzen oder Probleme zu identifizieren. Neben den Arten von Prototypen gibt es auch verschiedene Qualitäten und Entwicklungsstufen. Im Englischen werden sie mit dem Begriff „fidelity“ (Genauigkeit) beschrieben. Das Level Low (niedrige) Fidelity bezeichnet die grobe Umsetzung eines Prototyps. Ziel ist es, erst mal eine Vorstellung von den Zusammenhängen zu bekommen. Ein Low-Fidelity-Prototyp kann beispielsweise eine erste Skizze eines Prozesses sein. Medium (mittlere) Fidelity meint jenen Grad an Genauigkeit, der normalerweise als Minimum Viable Product (MVP) bezeichnet wird. Die Bestandteile und deren Funktionieren sollten klar sein, aber alle nicht nötigen Features können nochweggelassenwerden. Es geht darum, ein erstes Funktionieren zu simulieren, ohne sichmit Details aufzuhalten. EinMedium-Fidelity-Prototyp ist etwa einWireframe, also die Struktur und die besonders wichtigen Inhalte einer Web- oder Landingpage. Felix Haas, Gründer des Start-ups IDnow sowie der Tech-Konferenz Bits & Pretzels, rät Gründerinnen und Gründern, mit dem MVP schnell an die künftige Zielgruppe heranzutreten. Das MVP seines früheren Start-ups Amiando, einer Online-Plattform für Eventmanagement (2010 an Xing verkauft), sei eine „hässliche, selbst gebastelte Google-Maps-basierte Karte“ gewesen, „auf der man Events sehen und finden konnte“, sagt er heute. Bei IDnow, einemTool zur digitalen Personenidentifizierung, bauten er und seine Mitgründer ein MVP, das nur ihre eigenen Ausweise erkannte. „Damit konnte man aber wunderbar den User Flow ausprobieren und das Produkt den Banken vorführen“, so Haas. „Show, don’t tell“ sei das Stichwort, um erste Kundinnen und Kunden, Teammitglieder und Investoren zu überzeugen. Höchster Grad an Genauigkeit High (hohe) Fidelity schließlich bezeichnet den höchsten Grad an Genauigkeit. Ein Prototyp dieser Art ist vom finalen Produkt kaum mehr zu unterscheiden. Ein High-Fidelity-Prototyp ist beispielsweise die Studie eines neuen Autos, also eine Variante, in der man schon alle Bestandteile sieht, nur dass das Auto noch nicht fährt. Ein Bereich, den es außerdem bei der Entwicklung von Prototypen zu berücksichtigen gilt, ist der Zweck, dem der Prototyp dient. Auch hier gibt es unterschiedliche Kategorien: Empathy, Testing und Deciding. Im ersten Fall ist der Zweck des Prototyps, mehr über das Problem sowie die Kundinnen und Kunden zu erfahren. Diese Prototypen versetzen uns also in die Situation der User hinein und ermöglichen uns konkrete Einblicke in deren Verhalten. Diese Prototypen sollten daher recht offene Fragen abbilden und nicht zu viele Vorgaben enthalten, um Einschränkungen zu vermeiden. Ein Beispiel dafür sind Rollenspiele, in denen ganz alltägliche Situationen der Kundinnen und Kunden simuliert werden. Nutzen für die Kunden testen Beim Testing besteht der Zweck des Prototyps darin, eine spezifische Hypothese zu testen. Das könnte ein bestimmter Nutzen für die Kunden sein oder ein Bestandteil eines Produkts oder Services. Beim Testen geht es darum, konkrete Entscheidungen für die weitere Entwicklung der Geschäftsidee, des Produkts oder Services abzuleiten. Beispiele hierfür sind Testnutzungen, Testsettings und Experimente. Die Kunden benutzen den Prototyp und können ihn dann bewerten. So sollte laut Felix Haas getestet werden, ob die Zielgruppe für das Produkt überhaupt zahlen würde. Dafür kann man den Prototyp auf einer Skala von 1 („Würde ich auf keinen Fall kaufen“) bis 10 („Würde ich definitiv kaufen“) bewerten lassen. Liegt das Feedback nicht im obersten Bereich, sollte die Idee noch einmal überdacht werden. „Alles außer 9 und 10 ist inakzeptabel. Die Rückmeldung ,Würde ich vielleicht kaufen‘ ist ein Todesstoß für jedes Produkt“, so Haas. Begraben werden sollte die Idee bei einem mittelmäßigen Feedback trotzdem nicht. „Die Gründer sollten ihre Energie dann nicht in den Launch stecken, sondern in die Weiterentwicklung der Idee“, so Haas. Heißt: Kundenwiederholt umFeedback bitten, was die Lösung besser machen würde. Bei der dritten Kategorie, demDeciding, geht es darum, eine von zwei oder mehreren Alternativen zu wählen. Dies ist etwa beim A/B-Testing der Fall, bei demman bereits sehr viele Informationen kennt, sich nun aber für eine bestimmte Variante (etwa des Designs) entscheiden muss. Insgesamt ermöglichen Prototypen Gründern und Gründerinnen, ihre subjektiven Wahrnehmungen in objektiv messbare Hypothesen zu überführen und zu testen. Je nach Gründungsphase können Teams ihre wichtigsten Annahmen in passende Prototypen überführen und dann aus den Ergebnissen der Tests und dem Feedback der Nutzer ableiten, was als Nächstes zu tun ist. ■ 61 IHK BERLIN | BERLINER WIRTSCHAFT 04 | 2022 SERVICE | Gründerszene

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