Berliner Wirtschaft 9/2018

BERLINER WIRTSCHAFT 09/18 38 VERLAGSTHEMA UMWELT & ENERGIE da Vorreiter, Frankreich und die Nie- derlande wollen ein solches Instrument ebenfalls einführen. Aus diesen Erfah- rungen solltenwir lernen, dennwirwol- len und müssen natürlich auch dieWett- bewerbsfähigkeit derWirtschaft und zu- gleich die Sozialverträglichkeit bei der Energieversorgung im Blick behalten. Klimaschutz braucht mehr Photovoltaik, so lautet eine Forderung. Was heißt das konkret? Wir haben in Berlin rund 12.000 Mehrfa- milienhäuser, die für die Installation ei- ner Photovoltaik-Anlage im Prinzip ge- eignet wären. 500.000 Menschen könn- ten ihren Energiebedarf teilweise mit „Mieterstrom“ vom eigenen Dach de- cken. Das ist Energiewende zum Anfas- sen. Wir sind davon allerdings nochweit entfernt. Es ist eine große Herausforde- rung, mehr Gebäudeeigentümer als bis- her dazu zu bewegen, ihre Dachflächen für eine solare Nutzung bereitzustellen. Welche Zielgruppen profitieren davon? Die Mieter durch niedrigere Stromkosten und die Eigentümer, da sie ihre Immo- bilie durch das Strommodell aufwerten. Und als Drittes die regionale Wirtschaft insgesamt. Über 20 Prozent der Investi- tionssumme bei Solarstromanlagen ent- fällt auf die Installation und Montage, die von heimischen Handwerksbetrie- ben ausgeführt wird. Aber Photovoltaik ist nur ein Beispiel. Rund umdie gesamte Palette der erneuerbaren Energien ent- wickeln sich weitere Tätigkeitsfelder für Unternehmen, gerade im Zusammen- hang mit der Digitalisierung. Die Ener- giewende stärkt die Wirtschaft! Es wäre gut, wenn sich diese Einsicht in Politik, Wirtschaft und Bevölkerung mehr und mehr durchsetzt. Seit einem Jahr ist das Photovoltaik-Mie- terstromgesetz in Kraft. Wie ist Ihre Bilanz? Es enthält leider zu viele Einschränkun- gen, sodass es bisher noch keine nach- haltige Breitenwirkung erzielt hat. Um nur einige Beispiele zu nennen: Bedeutet beispielsweise „Gebäude“ ausschließlich ein einzelnes Haus, oder ist damit auch ein Wohnblock mit mehreren Hausein- gängen zu verstehen? Kann Mieterstrom Was können das für neue Ideen sein? Wir müssen Gebäudesanierung wei- ter und auch mal anders denken – weg von der ausschließlichen Fokussierung auf das Einzelgebäude und dessen Op- timierung durch immer bessere Technik und mehrWärmedämmung. Stattdessen müssen wir stärker kleine oder größe- re Stadtquartiere in den Blick nehmen, bei denen die Häuser und Grundstücke miteinander vernetzt sind und in de- nen übergreifend verschiedene moder- ne Technologien zum Einsatz kommen. Das setzt dann auch mehr unternehme- rische Fantasie für Innovationen frei. Wie wichtig sind Best-Practice-Modelle? Man lernt nie nur aus der Theorie, son- dern immer aus der Praxis. Die Berliner Energieagentur betreibt dezentral in Ge- bäuden rund 150 Energieerzeugungsan- lagen. Bei manchen dieser Anlagen freu- en wir uns über einen regelrechten De- legations-Tourismus aus dem In- und Ausland. Fachleute wollen nicht nur Zahlen, Daten, Fakten auf dem Papier, sondern auch vor Ort sehen, wie unter bestimmten Gebäudebedingungen ein Anlagenkonzept umgesetzt wurde. Des- halb ist es wichtig, Leuchtturmprojekte zu haben, die auch wirtschaftlich funk- tionieren. Aber: Leuchten allein reicht nicht aus, wenn es auf hoher See dun- kel ist. Die Schiffe müssen auch fahren und nicht nur imHafen liegen. Das heißt: Best-Practice-Projekte müssen schneller in die breite Umsetzung kommen. Was ist Ihre zentrale Botschaft zum Thema Energiewende in Berlin? Berlin braucht ein breites Bündnis von Akteuren, um bis zum Jahr 2050 klima- neutral zu werden. Zu diesem Bündnis gehören die Energieverbraucher ebenso wie die Energieerzeuger, aber auch die Digitalwirtschaft, das Handwerk, Gebäu- dedienstleister und andere Branchen. Diewirtschaftliche Stärke Berlins liegt in der Vielfalt seiner privaten und öffentli- chen Unternehmen. Spätestens nach diesem Jahrhundertsommer hat vermut- lich jeder begriffen, dass Energiewende und Klimaneutralität nur gelingen wer- den, wenn alle mitziehen. Spätestens nach diesem Jahrhundertsommer hat vermutlich jeder begrif- fen, dass die Energie- wende nur gelingen wird, wenn alle mitziehen. MICHAEL GEISSLER Das Mitglied des IHK-Präsidiums plädiert für ein breites Bündnis der Akteure, damit Berlin bis 2050 klimaneutral wird FOTO: BERLINER ENERGIEAGENTUR auch an unmittelbar benachbarte Häuser und deren Mieter geliefert werden? Hier muss vieles klarer und großzügiger ge- regelt werden. Und auch die Belastung von Mieterstrom durch die EEG-Umlage ist kontraproduktiv, weil sauberer Strom vom eigenen Dach mit der gleichen Ab- gabe belegt wird wie klimaschädlicher Kohlestrom. Welche Rolle spielt die energetische Gebäu- desanierung beim Klimaschutz? Eine Schlüsselrolle. Seit Jahren stag- niert in Deutschland die Modernisie- rungsrate, die Instrumente „Zuschüsse und Kredite“, „Modernisierungsumla- ge“ und „bautechnische Vorschrif- ten“ funktionieren nicht so wie erhofft. Es ist gut, dass das Land Berlin voran- geht und eine CO 2 -neutrale Verwaltung anstrebt. Der Staat ist auf diesem Ge- biet nur glaubwürdig, wenn er als Vor- bild agiert. Insgesamt sollten wir beim Thema Gebäudeenergieeffizienz mehr Mut haben zu neuen Ideen und alte Pfade verlassen, wenn sie sich als ausge- treten erwiesen haben.

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